Durch die Brille der Wissenschaft: Wie die steirische Industrie bis 2040 klimaneutral werden kann und welchen Beitrag die Montanuniversität Leoben (MUL) bei dieser Mammutaufgabe leistet. Aufbauend auf den „Masterplan Grüne Energie 2040“, der von der MUL wissenschaftlich begleitet wurde, benennt Thomas Kienberger vom Lehrstuhl für Energieverbundtechnik Ansätze für eine klimaneutrale Industrie. Das Interview entstand im Rahmen der Veranstaltung "Energiewirtschaftliches Kolloquium" am 25. Juni 2024 an der Montanuniversität Leoben.
Martina Kiefer: Was sind aus Sicht der Wissenschaft die größten Herausforderungen am Weg zu einer klimaneutralen Industrie?
Thomas Kienberger: Es ist eine Generationenaufgabe, Klimaneutralität in der Industrie zu erreichen. Dieses Projekt wird uns die nächsten zumindest 25 - 30 Jahre begleiten. Dabei müssen wir einerseits Österreich als produzierenden Industriestandort erhalten. Und andererseits Technologien am Standort entwickeln, mit denen wir global Wertschöpfung erzielen können.
Wie kann die Transformation, im Gleichschritt mit der Industrie, gelingen?
Es gibt immer noch den Narrativ, dass für die Energiewende alles da ist und wir nur tun müssen. Kurzfristig ist das richtig, langfristig betrachtet nicht. Wir wollen von Prototypen zu großen Industrielösungen kommen, weshalb die Technologieentwicklung zentral ist. Seitens der Forschung haben wir Handlungsfelder, Technologien und Hebel zwar schon definiert. Wesentlich ist aber, dass wir trotzdem mehr über die Begleitung der Transformation nachdenken und, dass wir seitens der Wissenschaft Leitplanken definieren. Der Masterplan Grüne Energie 2040 ist dabei ein Puzzlestein.
Für die Transformation des industriellen Energiesystems braucht es auch viel Zuversicht, da wir eine unsichere Zeit vor uns haben. Die Wissenschaft kann zu dieser Zuversicht einen Teil beitragen. Dabei geht es nicht nur um das Energiesystem, sondern um eine wirtschaftliche, soziale und auch um eine politische Dimension.
Was sind die Flaschenhälse in der Umsetzung? Oder salopp formuliert: wo haperts?
Ich möchte das nicht so negativ framen. In Österreich haben wir, wie ich finde, ein tolles Ökosystem. Wir arbeiten eng zusammen mit der Industrie, mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen und auch mit der Politik. Die Fördertöpfe sind da. Was uns aber fehlt ist ein übergeordneter Plan. Aber bitte nicht im Sinne einer Planwirtschaft. Was zudem auffällt ist die Geschwindigkeit, mit der Entscheidungen getroffen werden, wenn es um den Übergang von Forschungsergebnissen in die Umsetzung geht. Hier könnten wir schneller sein.
Nach dem Innovationsnetzwerk New Energy for Industry (NEFI) gibt es seit Kurzem NEFI+: Was darf man sich vom Innovationslabor NEFI+ erwarten?
NEFI, das Netzwerk, gibt es seit 2018. Das Ziel ist hier zu demonstrieren, wie die Energiewende in der Industrie funktionieren kann. Nachdem die Bundesregierung bis 2030 über drei Milliarden Euro für die Förderung von Maßnahmen zur Klimaneutralität in der Industrie zur Verfügung stellt, können wir noch mehr als bisher umsetzungsorientiert arbeiten. Damit kann Technologie, die sich kurz vor dem Realmaßstab befindet, forschungsbegleitet realisiert werden. Zudem können wir die Forschung vertiefen, um den Schritt hin zur Anwendung neuer Technologien zu beschleunigen. Das neue Innovationslabor NEFI+ zielt genau darauf ab, Projekte zu definieren und auf den Boden zu bringen.
In welche Richtung gehen die Projekte?
Die sechs großen Handlungsfelder sind Elektrifizierung und Energieeffizienz, Flexibilisierung, CO₂-neutrale Gase und Wasserstoff, Carbon Capture und Storage, Kreislaufwirtschaft und industrielle Symbiose. Dafür haben wir jeweils einen sog. Innovationshub gegründet.
Wie funktioniert so ein Innovationshub?
Die Hubs werden von jenen Wissenschaftler:innen aus Österreich, die in den jeweiligen Hubs die beste Expertise haben, geleitet. Sie entwickeln Projekte und stimmen sich interdisziplinär ab. Mit anderen Hubs ebenso wie mit Stakeholdern aus der Energiewirtschaft wie der Energie Steiermark. Sie erfragen im Zuge des Innovationsprozesses, wo der Hut brennt, und bringen Wissenschaft, die Industrie und die Energiewirtschaft mit den Technologieanbietern zusammen. Wir verschneiden damit Praxis und Forschung viel stärker als bisher. Ende des Jahres wissen wir mehr über die ersten Projekte.
Der Ausbau von Energienetzen ist für ganz Europa entscheidend, Österreich ist geografisch betrachtet mittendrin. Welche Chancen bringt da der integrierte Netzinfrastrukturplan ÖNIP?
Wir erleben grad ein sehr dynamisches Umfeld. Technologien wie PV, Speicher, Wärmepumpen werden immer billiger, es gibt viel Unterstützung von den Regierungen in den Mitgliedsstaaten. Wir bauen in Österreich jedenfalls stark Photovoltaik und etwas langsamer auch Wind aus. Was aber nachhinkt ist der Ausbau der Infrastruktur. Der ÖNIP, den Österreich übrigens als erstes Land in Europa hat, stellt den Übertragungsnetzausbau außer Zweifel. Dieser Plan ist von unabhängigen Wissenschaftler:innen erstellt und geprüft worden, mit dem Ergebnis, dass im Stromübertragungsnetz zur verbesserten Integration der Erneuerbaren im europäischen Verbund ein Ost-West-Ausbau, sowie eine Verstärkung in innerösterreichischen Vermaschungen durchzuführen ist. Und zwar als No-regret-Maßnahme. Es gibt keinen anderen Weg als auszubauen, da sind sich alle einig. Der ÖNIP betrachtet aber nicht nur die Strom-, sondern auch die Gasnetzinfrastruktur. Daraus abzuleiten ist, dass unsere Erdgas-Infrastruktur für Wasserstoff umgebaut werden muss. Denn die Industrie wird bis ca. 2030 die ersten Wasserstoffnetze brauchen.
Welchen Beitrag müssen Energieversorger für eine Dekarbonisierung der Industrie leisten?
Verlässlicher, schneller Ansprechpartner für die Kund:innen sein. Sie müssen transparent sein und Lösungskompetenz mitbringen.
Wie können Energieversorger Ihre wissenschaftlichen Tätigkeiten bestmöglich unterstützen?
Die Wissenschaft arbeitet schon sehr gut mit den Energieversorgern zusammen. Über die Studierenden und Alumnis, die mittlerweile unter anderem bei der Energie Steiermark arbeiten, haben wir ständigen Wissensaustausch und arbeiten auch in Forschungsprojekten gut miteinander zusammen.
Glauben Sie, dass Europa (und Österreich) weiterhin die weltweite Marktführerposition bei bestimmten Technologien zur Dekarbonisierung beibehalten kann?
Wir haben die besten Voraussetzungen, um bei der Industrietechnologie gut zu performen. Das ist einfach unsere Kultur. Österreich ist eine Industrienation mit produzierenden Betrieben und jeder kennt Technologie-Erfolgsgeschichten wie das Linz-Donawitz-Verfahren. Das alles gehört zu unserem Narrativ und darauf sind wir stolz. Aber: Das langsame Tun und das Warten auf Entscheidungen auch aus der Politik hemmen uns. Ich bin trotz alldem sehr positiv und glaube, dass auch in einer höchst nicht-linearen Zeit wie dieser vieles schaffbar ist. Gehen wir einen Schritt zurück und schauen wir uns an, wie viel wir geschafft haben. Und das trotz des vielen Jammerns.