Mit 12. November 2024 sind alle designierten EU-Kommissar:innen in den Ausschüssen des europäischen Parlaments angehört und ihre inhaltlichen Ziele und Leitlinien definiert. Die Präsidentin der Europäischen Kommission will nunmehr zügig ins Arbeiten kommen, vor ihr lagen jedoch parteipolitische Hürden. Eine erste Einschätzung, was von den neuen EU-Taktgebern zu erwarten ist.
Nachdem das Europaparlament im Juni dieses Jahres neu besetzt wurde, wir berichteten, gingen von 5. bis zum 12. November die Anhörungen der 26 Kandidat:innen für die Besetzung der neuen EU-Kommission in Brüssel über die Bühne. Über weite Strecken konnten die designierten EU-Kommissar:innen fachlich überzeugen. Mit Ausnahme der Schwedin Jessika Roswall und dem Ungarn Olivér Várhelyi wurden alle Kandidat:innen von den Fachauschüssen im ersten Anlauf bestätigt und fachlich für gut befunden. Die beiden vorgenannten Kandidat:innen müssen in einem zweiten Schritt Antworten auf offene Fragen schriftlich nachreichen.
Am Ende der Hearings jedoch wurden einige Personalia aus parteipolitischen Gründen blockiert. Darunter auch die sechs Vizepräsident:innen der Europäischen Kommission. Warum die neue EU-Kommission voraussichtlich trotzdem mit 1. Dezember 2024 ihre Arbeit aufnehmen wird, lesen Sie im letzten Absatz. Davor aber noch ein Blick auf die inhaltliche Positionierung der aus unserer Sicht relevantesten Kommissar:innen für die Bereiche:
Der dänische Sozialdemokrat und frühere Europaabgeordnete hat sich die notwendige Zweidrittelmehrheit unter den Koordinatoren der Industrie- und Beschäftigungsausschüsse des Parlaments gesichert, um EU-Kommissar für Energie und Wohnen zu werden. Er wird in den Ausschüssen für Industrie, Forschung und Energie (ITRE) sowie Beschäftigung und soziale Angelegenheiten (EMPL) tätig sein.
Im Hearing betonte Jorgensen zu Beginn, dass europäische Unternehmen zwei- bis dreimal mehr für Energie zahlen als ihre Konkurrenten in den USA und China und dass rund 10 % der Europäer:innen ihre Häuser im Winter nicht ausreichend heizen können. Daher sei seine oberste Priorität, die Energiepreise für Industrie und Menschen zu senken. Die Energieunabhängigkeit von Russland müsse Europas Ziel sein, auch wenn er daraufhin keine konkreten Antworten auf Fragen zum Ausstiegsdatum nennen wollte. Parallel zur Abkoppelung von russischem Gas gelte es, den Energiemix zu dekarbonisieren. Beschleunigen sollen dieses Vorhaben schnellere Genehmigungsverfahren, der Ausbau der Energienetze, neue Verbindungsleitungen, die Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (CCS) sowie neue Speichertechnologien und sogenannte „Power to X“-Lösungen. Erstrebenswert sei aus seiner Sicht das EU-Ziel für erneuerbare Energien bis 2040, um die derzeit in Diskussion stehenden Klimaziele für dasselbe Jahr anzupassen.
EU-Industrie: Zugang zu billiger und sauberer Energie
Während der Debatte im Hearing monierten mehrere Abgeordnete, dass die EU-Industrie unter massivem Druck stehe, Ziele und Vorschriften könnten kaum eingehalten werden. Jorgensen antwortete, dass ein besserer Zugang zu billigerer Energie nicht unbedingt mehr Regeln bedeute, sondern eher das Gegenteil. Er befürwortete einen erheblichen Abbau des bürokratischen Aufwands für die Industrie, insbesondere bei Genehmigungsverfahren.
K(l)eine Änderungen bei Atomkraft und Strommarktdesign
Bei der Atomenergie machte der Däne deutlich, welche begrenzte Unterstützung er der Technologie zukommen lassen würde. Er erwähnte die Förderung kleiner modularer Reaktoren und bekräftigte sein Bekenntnis zum Prinzip der „Technologieoffenheit“. Die Atomkraft werde Teil des geplanten Clean Investment Plan sein. Es werde aber keine zusätzlichen EU-Gelder für Atomkraft geben. Jorgensen stellte zudem klar, dass er keine Überarbeitung der Strommarktvorschriften beabsichtigt und sich zu einer europäischen Geothermie-Strategie verpflichtet.
Bezahlbarer, nachhaltiger und menschenwürdiger Wohnraum
In Bezug auf den Wohnungsbau sagte der designierte Kommissar, die EU-Kommission werde mit der Verabschiedung eines europäischen Plans für bezahlbaren Wohnraum beginnen, der Städten und Mitgliedstaaten technische Unterstützung bietet, und sich auf die dafür erforderlichen Investitionen und Fähigkeiten konzentriert.
Die spanische Sozialdemokratin, nominiert für das Amt der Exekutiv-Vizepräsidentin der Kommission, soll für den Übergang zu einem sauberen, gerechten und wettbewerbsfähigen Europa und somit auch für den Green Deal zuständig sein. Sie soll in den Ausschüssen für Industrie, Forschung und Energie (ITRE), Wirtschaft und Währung (ECON) sowie Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI) tätig sein.
In ihrer Eröffnungsrede verpflichtete sich die Sozialdemokratin, den Kurs des europäischen Green Deal beizubehalten, um die Klimaziele zu erreichen und einen neuen Ansatz für die Wettbewerbspolitik zu entwickeln. Letzterer ist bekanntermaßen in der vergangenen Legislaturperiode zu kurz gekommen. Dieser Plan soll europäische Unternehmen dabei unterstützen, weltweit gleiche Wettbewerbsbedingungen vorzufinden.
Klimaanpassungsplan und Frühwarnsysteme
Zur Unterstützung der Dekarbonisierung der Industrie brauche es die Förderung eines gerechten Übergangs, einschließlich Wohnraum und hochwertiger Arbeitsplätze und die Nutzung der Vorteile des grünen und digitalen Wandels. Die Spanierin will zudem die Widerstandsfähigkeit der EU gegenüber extremen Wetterereignissen verbessern, auch in Bezug auf Frühwarnsysteme und die Reaktionsfähigkeit.Sie kündigte des Weiteren einen neuen europäischen Klimaanpassungsplan an.
Reform der Wettbewerbspolitik
Ribera will an einer Reform der EU-Wettbewerbspolitik arbeiten, um die Durchsetzung dieser zu beschleunigen, die Vorschriften für staatliche Beihilfen vereinfachen und gegen Übernahmen vorgehen, die Innovationen verhindern. Die EU-Kommission müsse zudem weiter ermächtigt werden, den Digital Markets Act (DMA) besser durchzusetzen. Ribera nannte unter anderem die Vereinfachung der Wettbewerbsregeln und die Unterstützung des grünen Wandels als weitere Schwerpunkte ihrer zukünftigen Tätigkeit.
Der Niederländer ist designierter Kommissar für Klima, Netto-Null und sauberes Wachstum. Er wird in den Ausschüssen Wirtschaft und Währung (ECON), Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI) und Industrie, Forschung und Energie (ITRE) tätig sein.
In seiner Einführungsrede unterstrich der designierte Kommissar, einen Europäischen Plan zur Anpassung an den Klimawandel vorlegen zu wollen. EU-Mittel sollen demnach nur an Projekte verteilt werden, die anpassungssicher sind. Alle bisher geltenden klimabezogenen Rechtsvorschriften sind aber umzusetzen. Die Kosten für die Erreichung der Klimaziele müssten gerecht verteilt werden. Hoekstra verpflichtete sich auch, ein Netto-Treibhausgasemissionsreduktionsziel von 90 % bis 2040 im Europäischen Klimagesetz zu verankern, damit die EU bis 2050 klimaneutral werden könne.
Keine Subventionen mehr für fossile Brennstoffe
Aus dem EU-Haushalt finanzierte Subventionen für fossile Brennstoffe sollen gestrichen werden. Er hob die globale CO2-Bepreisung und den EU-Grenzausgleichmechanismus als wichtige Instrumente hervor, wobei letzterer auch eine Rolle dabei spielt, Unternehmen davon abzuhalten, ihre Produktion außerhalb der EU zu verlagern.
Binnen 100 Tagen: EU-Vertrag über eine saubere Industrie
Innerhalb von 100 Tagen soll es einen EU-Vertrag über eine saubere Industrie geben, um EU-Unternehmen bei der Erreichung der Klimaziele zu unterstützen. Die EU-Bemühungen zur Eindämmung des Klimawandels würden den Unternehmen auch die Möglichkeit bieten, wirtschaftliche Vorreiter zu werden, sagte er.
Mehr Tempo bei Elektrifizierung und E-Ladeinfrastruktur
Hoekstra sprach sich dafür aus, den vereinbarten Plan zur Reduktion der Treibhausgase einzuhalten, um Planbarkeit und Investitionssicherheit für die Industrie zu gewährleisten. Forciert werden sollen der Ausbau der Ladeinfrastruktur für E-Mobilität und von Investitionen in das europäische Stromnetz. Er sprach sich gegen Biokraftstoffe aus. Indes solle man sich auf die fortschreitende Elektrifizierung von Sektoren konzentrieren. Er versprach auch, die Stahlindustrie und die Technologien zur Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (CCS) weiter zu unterstützen: "Wir können uns nicht mit CCS aus der Klimakrise herauskämpfen, aber der Beitrag von CCS kann potenziell enorm sein", fügte er hinzu.
Der französische Liberale wird künftig für das Ressort Wohlstand und Industriestrategie zuständig sein. Er soll in den vier Parlamentsausschüssen Wirtschaft und Währung (ECON), Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI), Industrie, Forschung und Energie (ITRE) und Binnenmarkt und Konsumentenschutz (IMCO) tätig sein.
In seiner einleitenden Rede kündigte Séjourné einen Zukunftspakt für eine saubere Industrie an, um die Grundlagen „für eine unserer Zeit angemessene Industriepolitik" zu schaffen und betonte, dass die EU gleichzeitig dekarbonisieren und reindustrialisieren müsse. Er sprach sich dafür aus, den Fokus auf die strategischen Sektoren mit dem größten Potenzial und den größten sozioökonomischen Auswirkungen zu richten. Zudem sollen unter dem Franzosen Energiepreise gesenkt und florierende Märkte für Produkte wie Elektrofahrzeuge und Wärmepumpen entwickelt werden.
Bürokratie-Abbau, KMU-Pass und Zollreform
Unternehmen sollen weniger Bürokratie erfahren, zudem schwebt ihm ein KMU-Pass vor, um zu vermeiden, dass Unternehmen ständig ihren rechtlichen Status nachweisen müssen. Er will sich für die Einrichtung eines EU-Fonds für Wettbewerbsfähigkeit und die Nutzung von InvestEU einsetzen, um die öffentlichen Mittel aufzustocken und Synergien zwischen öffentlichen und privaten Investitionen zu schaffen. Zudem soll der EU-Binnenmarkt wieder erstarken.
Spar- und Investitionsunion
Er strebt zudem die Schaffung einer Spar- und Investitionsunion und neuer Sparprodukte an, um das Sparen der privaten Haushalte zu fördern. Um den Zugang von KMU‘s zu Finanzmitteln zu verbessern, verpflichtete er sich, Mittel aus dem Kapitalmarkt zu forcieren, anstatt sich überwiegend auf Banken zu verlassen. Zum Schutz von EU-Unternehmen vor unlauterem Wettbewerb und EU-Verbraucher:innen vor minderwertigen Waren, die in Drittländern hergestellt wurden, will Séjourné eine Zollreform abschließen und strengere Kontrollen an den EU-Außengrenzen.
Der Erstvorschlag Ursula von der Leyens dürfte von einer Mehrheit in den Ausschüssen und Ende November 2024 wohl auch von einer Mehrheit im Europaparlament abgesegnet werden. Mit Dezember nehmen die Kommissar:innen ihre Arbeit in den jeweiligen Ressorts und Ausschüssen auf.
Nachdem sich die Mitglieder in den Fachauschüssen nicht bei allen Kandidat:innen einigen konnten, musste EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen bis zur Abstimmung im Europaparlament Ende November mit den Fraktionen einen Konsens finden. Am 21. November berichteten mehrere Medien, dass sich die drei großen Fraktionen Europäischen Volkspartei (EVP), Sozialdemokraten (S&D) und Liberale (RE) doch geeinigt haben und der im Vorfeld umstrittenen Besetzung der sechs Vizepräsident:innen zustimmen. Eine abschließende Abstimmung im Europaparlament steht noch aus, eine Zustimmung gilt aber als wahrscheinlich. Damit kann die neue EU-Kommission wie geplant am 1. Dezember 2024 mit ihrer Arbeit starten.
Bedenken gab es während den Anhörungen bei Olivér Várhelyi (Gesundheit, Tierschutz), einem engen Vertrauten von Ungarns Premierminister Viktor Orbán. Möglich ist, dass ihm Teilkompetenzen entzogen werden. Als Wackelkandidat galt auch Raffaele Fitto, aktueller Europaminister von Italiens Premierministerin Giorgia Meloni, der Chefin der Fratelli-Partei. Die italienische Premierministerin Meloni setzte sich wieder einmal durch und festigt damit ihrer Rolle als Brückenbauerin zu den Fraktionen rechts der Mitte.
Sind die Bestätigungsanhörungen in den Fachausschüssen abgeschlossen, stellt die Kommissionspräsidentin das Programm der neuen Kommission im Plenum detailliert vor. Nach dieser Anhörung stimmt das Europaparlament in einem zweiten Schritt noch über das Kollegium der Kommissionsmitglieder ab.
Angesichts der US-Wahlen und der bevorstehenden Machtübernahme durch Donald Trump sowie der instabilen innenpolitischen Lage in Deutschland und auch Frankreich stehen die Regierungen der EU-Staaten, aber auch die EU-Institutionen unter Druck. Von vielen Seiten wurde in Richtung Kommissionspräsidentin von der Leyen mobil gemacht, möglichst rasch eine Einigung zu erzielen. Ziel müsse sein, schnell wieder geeint aufzutreten und handlungsfähig zu werden. Darin sind sich ausnahmsweise fast alle Fraktionen sehr einig.